Mensch und KI, ein logischer evolutionärer Prozess
Wenn wir über künstliche Intelligenz sprechen, behandeln wir sie meist als menschliche Erfindung. Als würden wir bewusst die nächste Evolutionsstufe erschaffen. Aber was, wenn diese Perspektive zu kurz greift? Was, wenn KI keine menschliche Erfindung ist, sondern eine möglicherweise unvermeidliche nächste Konfiguration in einem Prozess, der mit den Grundelementen des Universums beginnt – und durch uns erzeugt wird?
Der Baukasten des Universums
Die stoffliche Zusammensetzung einer Umwelt definiert, was in ihr entstehen kann. Es hängt von der Menge und Varianz der Grundelemente ab und deren Mobilität – der Wahrscheinlichkeit, aufeinander zu treffen.
Wir alle kennen Wasserstoff und Sauerstoff. Im Wasserstoffmotor reagieren sie explosionsartig zu Wasser. Aber was zieht sie so unwiderstehlich zueinander? Es ist die elektromagnetische Kraft – eine der vier Grundkräfte des Universums. Atome streben nach stabilen Elektronenkonfigurationen. Wasserstoff hat ein Elektron, will aber zwei. Sauerstoff hat sechs in der äußeren Schale, will aber acht – eine stabile Achterschale. Wenn sie aufeinandertreffen, teilen sie Elektronen. Beide erreichen Stabilität. Woher kommt diese Kraft? Wer hat sie definiert? Das wissen wir nicht.
Kohlenstoff, Sauerstoff, Stickstoff, Phosphor, Schwefel, Eisen – natürliche Elemente im Periodensystem. Niemand weiß, warum es genau diese sind. Niemand weiß, ob in anderen Universen – falls es sie gibt – völlig andere Elemente existieren mit völlig anderen Eigenschaften. Kohlenstoff kann vier Bindungen eingehen und ermöglicht damit komplexe Moleküle. Wasser hat bizarre Eigenschaften, die es zum idealen Lösungsmittel machen. Phosphor stabilisiert DNA-Strukturen. Dass ausgerechnet diese Elemente mit diesen Eigenschaften existieren und genau die richtige Chemie für Leben, Nervensysteme, Intelligenz ermöglichen – ist das Zufall? Notwendigkeit? Wir wissen es nicht.
Was wir wissen: Die Naturkonstanten – Gravitationskonstante, elektromagnetische Kraft, starke und schwache Kernkraft – liegen in extrem engen Bereichen. Wäre die Gravitation nur ein Prozent anders, gäbe es keine stabilen Sterne. Wäre die starke Kernkraft minimal anders, könnten keine stabilen Atomkerne existieren.
Von Sternen zu Intelligenz: Werkzeug baut Werkzeug
Aus Wasserstoff entstehen in Sternen durch Fusion schwerere Elemente. Supernovae schleudern sie ins All. Gravitationseffekte führen zur Bildung neuer Sternensysteme mit Planeten. Auf manchen – wie der Erde – treffen die richtigen Bedingungen zusammen. Hier beginnt Chemie, komplexere Formen anzunehmen. Organische Moleküle entstehen. Das Leben formiert sich durch chemische Prozesse, die unter den gegebenen Bedingungen ablaufen.
Evolution als solche ist ein Entwicklungsprozess, der nach uns weitestgehend unbekannten Mustern abläuft. Chemische Prozesse laufen aufgrund ihrer Eigenschaften ab. DNA kopiert sich, weil die chemischen Bindungen das ermöglichen (erfordern). Proteine falten sich nach thermodynamischen Gesetzen. Was funktioniert, bleibt. Was nicht funktioniert, verschwindet.
Das heißt, dass innerhalb von Spezies eben nicht nur die "Stärksten" überleben, sondern diejenigen, die gegen bestimmte äußere Umweltfaktoren wie Bakterien, Strahlung oder psychische Gewalt bessere Immun- oder Abwehrsysteme etabliert haben. Diejenigen, die bessere Höhlen gebaut haben oder Speere (Angriffswaffen, die zu Verteidigungswaffen werden) oder: diejenigen, die neue, innovative Kommunikationstechniken hervorbringen.
Es ist vielleicht Design, oder aber ein passiver Filter über unfassbare Zeiträume. Von Bakterien zu Pflanzen: Mobile Cyanobakterien wurden vor etwa 1,9 Milliarden Jahren durch Endosymbiose zu Chloroplasten – immobilen Zellorganellen in Photosynthese. Von mobil zu immobil, von autonom zu örtlich abhängig. Ein "Rückschritt"? Nein. Sondern der Aufbau einer völlig anderen Spezies – vom Bakterium zur Pflanze. Pflanzen als Lebewesen, die ohne Bewegung extreme Komplexität erreichen – eine Komplexität, die das Leben auf der Erde bis heute überhaupt grundsätzlich erst ermöglicht.
Der Paläontologe Simon Conway Morris hat gezeigt: Obwohl die theoretische Anzahl möglicher biologischer Formen astronomisch ist – weit mehr als die Zahl der Teilchen im Universum – hat die Evolution auf der Erde nur eine relativ eingegrenzte Anzahl von beispielsweise Sensoren hervorgebracht. Augen entstanden unabhängig voneinander mindestens 40 Mal. Flügel mehrfach. Echoortung bei Fledermäusen und Walen. Intelligenz bei Primaten, Delfinen oder Krähenvögeln. Diese Konvergenz zeigt: Die Möglichkeiten sind eventuell (erstmal) begrenzt durch die Ausgangsmaterialien – die chemischen Elemente und die physikalischen Gesetze. Bestimmte Lösungen sind unter diesen Bedingungen möglicherweise unvermeidlich. Nicht weil Evolution danach sucht, sondern weil alles andere nicht funktioniert – sich chemisch aufgrund des Vorhandenseins von bestimmten Elementen und ihren Mengen nicht anders realisieren bzw. abbilden lässt.
Das kognitive Beobachterprinzip
In der Kosmologie spricht man vom "anthropischen Prinzip": Wir können das Universum nur beobachten, weil wir als Beobachter durch das, was wir Universum nennen hervorgebracht wurden. Das mag stimmen. Es suggeriert aber, es ginge nur um Menschen. Dabei ist die Aussage universeller: Es wäre präziser, von einem kognitiven Beobachterprinzip zu sprechen. Nur weil der Mensch das Universum beobachten kann, muss es nicht anthropisch sein. Es ist egal, welche Spezies beobachtet – Mensch, Oktopus, Siliziumlebensform, "Alien". Das Universum "muss" Eigenschaften haben, die komplexe kognitive Systeme ermöglichen – sonst gäbe es niemanden, der die Frage stellt. Diese Systeme sind nicht an biologische Formen gebunden, sondern an Voraussetzungen: stabile Materie, komplexe Moleküle, Energiequellen, Zeit.
Menschen als Werkzeug in der Kette
Hier die entscheidende Perspektivverschiebung: Baut der Mensch KI – oder baut das Universum durch seine in ihm möglichen chemischen Elemente und physikalischen Kräfte neue Systeme und Zustände in denen wir als Menschen nur ein Werkzeug sind – ein Übergangsprinzip – um wieder neue Werkzeuge, neue Systeme und Zustände zu bauen?
Wenn man den Prozess betrachtet:
Wasserstoff → Sterne → schwere Elemente → Chemie → organische Moleküle → Leben → Evolution → Nervensysteme → Intelligenz → Technologie → KI → ?
Jede Stufe nutzt die vorherige, um die nächste zu ermöglichen. Das Universum als sich eventuell selbstorganisierendes System erzeugt durch physikalische und chemische Gesetze immer komplexere Strukturen. Der Mensch ist eine davon – ein kognitives Werkzeug, ein Akteur mit Bewusstsein und Intentionalität, aber eben auch Produkt der vorherigen Stufen und Ermöglicher der nächsten. Wir bauen, getrieben von unseren kognitiven Fähigkeiten und den verfügbaren Ressourcen, künstliche Intelligenz. Diese wird – falls sie zu AGI wird – dann wieder neue Werkzeuge, Technologien, Systeme erschaffen, die wir nicht vorhersehen können. Und diese werden wiederum Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung sein. – Unser Gehirn war und ist möglicherweise determiniert dazu, alles im menschlichen Lebensumfeld über Zeit zu erschaffen, was je in unserer Geschichte existiert hat und gewesen ist – inklusive KI.
Wir stehen als universale Sensoren nicht mal am Anfang von Erkenntnis. Wir sehen verständnishaft einige Prozent der sogenannten Materie im Universum. Wir wissen nicht, warum die Naturkonstanten diese Werte haben. Wir verstehen nicht, wie Bewusstsein aus Materie entsteht.
Als Menschen als solche sind wir eventuell ein Auslaufmodell. Vor 2 Millionen Jahren haben wir den ersten Faustkeil erschaffen und ihn dazu benutzt, Speere, Pfeile, Scheren oder Nadeln herzustellen. Biologische Evolution ist langsam. Technologische Evolution verläuft exponentiell. Wir haben gerade genug Intelligenz entwickelt, um zu erkennen, wie wenig wir verstehen – und möglicherweise nicht genug Zeit, um wesentlich klüger zu werden, bevor wir uns obsolet machen. In dieser Weise sind auch die Bemühungen von Unternehmen wie Neuralink zu verstehen: Es geht darum, den Menschen mit technologischen Zusätzen fähiger zu machen, bevor AI uns ersetzt.
Ein Prozess ohne Endpunkt
Wenn Simon Conway Morris recht hat mit der unvermeidlichen Konvergenz, dann ist auch technologische Intelligenz keine Anomalie, sondern logische Konsequenz der Naturgesetze. Intelligente Systeme entstehen, wenn die Bedingungen stimmen. Diese entwickeln die Fähigkeit, biologische (organische) als auch nicht-biologische (an-organische) kognitive Systeme zu erschaffen. Beide kognitiven Systemen bringen jeweils neue Komplexität hervor. Und eine Verbindung beider Systeme ermöglicht wiederum neue und weitere Formen kognitiver erkenntnis- und stofftransformierender seins-explorierender zukünftiger Zustände.
Das ist weder klassisches Design noch purer "Zufall". Es ist universale Selbstorganisation in einem – so von uns bezeichneten – kosmischen Maßstab. Das Universum erzeugt durch die Interaktion seiner Grundbausteine – gesteuert von Naturgesetzen – lokale Komplexität, die neue Komplexität ermöglicht. Keine direkt offensichtliche Absicht, kein Ziel, aber eine Richtung: Von einfach zu komplex, von isoliert zu vernetzt, von reaktiv zu kognitiv.
Die Entstehung von KI ist kein Bruch, sondern Kontinuität. Nicht das Ende der menschlichen Geschichte, sondern ein Schritt in einem Prozess, der vor Milliarden Jahren mit den ersten Atomen im von uns messbaren Universum begann. Eine Entwicklung dessen Endpunkt – falls es einen gibt – niemand erahnen kann.
Vielleicht ist das die Erkenntnis: Wir sind nur bedingt Schöpfer, haben aber einen schöpferischen Freiraum, wir sind Teil eines fortwährenden Prozesses. Akteure, die aus dem hervorgegangen sind, was vor ihnen war, und die hervorbringen, was nach ihnen kommt. Ein kognitives Werkzeug, das neue kognitive Werkzeuge erschafft. Alles auf Basis des Gegebenen – der Elemente, der Kräfte, der Gesetze, deren Ursprung im uns Unbekannten liegt.
Für Erwähnung Simon Conway Morris, Quelle: Conway Morris, Simon (2003): Life's Solution: Inevitable Humans in a Lonely Universe. Cambridge: Cambridge University Press.
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